Wolfgang Nieschalk
        "Wer handelt, kann Fehler machen. Wer nicht handelt, hat bereits einen Fehler gemacht."

Der 3. Oktober - 30 Jahre Deutsche Einheit

Text meiner Rede auf dem Peter Winkler Platz in Rössing am 3. Oktober 2020


Lieber Ernst Baumgarten, sehr geehrte Ortsratsmitglieder, liebe Gäste,

 

als ich am 3. Oktober 2017 hier auf dem Peter Winkler Platz dem damaligen Redner zuhörte, der die Ereignisse in der Zeit vor und nach dem Einigungsvertrag von 1990 bildhaft schilderte, wurden auch bei mir Bilder aus einer weit zurück liegenden Zeit lebendig.

Sogar aus der Schulzeit und diesem Platz, auf dem wir als Jungen unsere Revierkämpfe austrugen und uns dabei manchmal blutige Nasen holten. An jenem 3. Oktober vor 3 Jahren aber ging es hier friedlich zu. Nichts kann mehr Harmonie auslösen als eine Gedenkfeier, die an den Deutschen Einigungsvertrag von 1990 erinnert. An jenen dramatischen Moment, als Deutschland begann, wieder zusammen zu wachsen

Diese Entwicklung lag damals außerhalb meiner Fantasie. Allein der Gedanke daran war absurd. So wie ich dachten vermutlich die Meisten - und doch trat das für unmöglich Gehaltene ein und schlug - nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Welt - eine neue, unerwartete und dramatische Seite im Buch der Geschichte auf.

Doch die Chance, die weitsichtige Politiker zur richtigen Zeit erkannt, angepackt und umgesetzt hatten, mussten wir als Bürger nun mit Leben erfüllen. Zusammenwachsen war gefragt und auch der Wille musste geweckt werden, die neuen Gegebenheiten anzunehmen.

30 Jahre sind seitdem vergangen und unser Zusammenwachsen mit den neuen Bundesländern ist gelungen. Mein persönlicher, zweiter Lebensmittelpunkt ist Sachsen und ich kann keinen Unterschied zwischen dem Hier und dem Dort erkennen - mit Ausnahme der Mundart.

Neue Statistiken bestätigen diese Entwicklung. Ost- und West Unterschiede überlagern sich immer mehr.

Der "Jammer Ossi und Besser-Wessi" stirbt aus - las ich gestern in der Leine-Deister Zeitung. Kein Wunder, denn noch zur Jahrtausendwende lagen die einkommensschwächsten Kreise ausschließlich in Ostdeutschland.

Heute liegen sie im Westen - in Gelsenkirchen und Duisburg.

Auch im schulischen Bereich gibt es kaum noch Unterschiede. Heute verlassen im Schnitt ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler die Schule mit einem Abitur. Anfang der 1990- er Jahre lag die Quote noch unter 20 Prozent.

Und trotzdem: Die Vergangenheit wurde ja nicht ausgelöscht durch die unglaubliche Entwicklung der letzten 30 Jahre und macht erst die Unterschiede zum Jetzt, zur Gegenwart überhaupt erst begreifbar.

Als hier am 3. Oktober 2017 die Nationalhymne gespielt wurde, wanderten meine Gedanken zurück in eine Zeit, in der Erinnerungen beginnen zu verblassen.

Das gilt aber nicht für jenen Tag der Wende, an dem ich auf dem Autobahnkreuz Hannover - festgekeilt zwischen stehenden Fahrzeugen - nach unten auf die Autobahn Richtung Braunschweig sah.

"Trabbi" an Trabbi reihte sich dort unten bis zum unsichtbaren Ende der Straße, weil blaue, ölige, süßlich stinkende Auspuffgase die Ferne verdeckten. Es gab nichts anderes zu sehen als Trabbis und Menschen, die neben ihren Fahrzeugen standen, miteinander diskutierten und die neue Freiheit aus einer ihnen vielleicht unerwarteten Perspektive kennen lernten. Das wunderbare, für unsere Zukunft damals gar nicht absehbare Geschehen bewegte mich stark und prägte sich unauslöschbar und dauerhaft im Gedächtnis ein.

Noch stärker aber, noch mehr mit Emotionen angefüllt, sind mir als ehemaligem Bundesgrenzschützer jene Ereignisse, die nochmals siebenundzwanzig Jahre weiter zurück liegen.  

Die innerdeutsche "Grenze" mit ihrem Todesstreifen ist für mich nie zur langsam verblassenden Erinnerung geworden. Dafür war der Dienst als Freiwilliger an dieser Grenze - Demarkationslinie genannt - bei Dannenberg zu beklemmend.

Immer breitete sich eine Kälte aus - auch im Sommer - die schlecht zu beschreiben ist. Eine andere, eine innere Kälte bemächtigte sich mir und ich konnte nichts dagegen tun. Vielleicht war diese Kälte nur verleugnete Angst vor den unsichtbaren Menschen hinter den Erdwällen, die unregelmäßig verstreut und in ihrer Unauffälligkeit gerade deshalb auffällig waren. Vor den Menschen, die heute friedlich mit uns zusammen leben. Jenen Menschen, die - heute ebenso alt wie ich, Robotern gleich - ihrem Schießbefehl folgen würden. Dieser Gedanke ließ uns damals frösteln.

Doch nie passierte etwas. Aber wenn doch? Was dann? Die Frage stand im unbeantwortet Raum. Dort, greifbar nahe, manchmal nur wenige Meter entfernt der Zaun, der keineswegs immer auf der Grenzlinie stand. Manchmal sprang der Zaun weit zurück auf DDR Gebiet und täuschte den Freiheitsuchenden von drüben das zweite Leben dort vor, wo in Wahrheit der Tod lauerte. Wehe dem, der sich nach der Überwindung des Zaunes in Sicherheit glaubte! Das Tacken der Maschinengewehre hätte ihn seinen Irrtum schnell erkennen lassen.

Auch die Stille über der toten Landschaft - wenn der Wind eingeschlafen war - erdrückte uns. Grabesstille, die nur durch das Knirschen unserer Stiefel unterbrochen wurde oder durch das nervöse, leise Hüsteln des Nebenmannes, der so seine Anspannung gegen seinen Willen zu erkennen gab. Eine Landschaft - die jeglichen Lebens beraubt schien und durch ihre "streifenförmige Existenz" die Welt in Ost und West zerschnitt und jeder menschlichen Intelligenz Hohn sprach.

Und doch war es menschlicher Geist, der diese Realität gewollt und geschaffen hatte. Sogar die Vögel hielten sich aus dieser menschgemachten Unmenschlichkeit fern. Oder sie hatten verlernt zu singen angesichts dieser vom Wahnsinn entstandenen Wirklichkeit menschlicher Irrungen!

Die ins Nichts ragenden Eisenbahnschienen hatten Symbolcharakter. Halb nach oben verdreht über dem kleinen Fluss im leeren Raum endeten sie abrupt und wippten träge im Wind an den sie tragenden, verfaulenden Schwellen. Die daran hochkletternde, weiß blühende Ackerwinde wirkte wie ein natürlicher Totenkranz. An ihr endete unsere Welt.

Doch ich gewöhnte mich an das Gespenstische. Aber an das unheilbringende, Deutschland zerteilende Band gewöhnte ich mich nie.

Zurück auf diesen Platz vor 3 Jahren.

Die letzten Klänge der Nationalhymne verklangen und ich machte mich - einem Impuls folgend - auf den Weg, um direkt hinter der ehemaligen Grenze am Harz die Orte Stapelburg, Ilsenburg und das Kloster Drübeck zu besuchen. Aber vor allem, um noch Spuren der ehemaligen DDR zu finden. 

Ich fand nichts - bis auf eine Hinweistafel, die den ehemaligen Grenzverlauf an einer kleinen Straße markierte.

Doch ich fand schöne Fotomotive, Apfelkuchen mit viel Sahne drauf und beim Nachdenken in der Ruhe des Klosterkaffees empfand ich es plötzlich als gut, keine Spuren der damaligen DDR mehr zu finden.

Wozu auch! Wir haben eine neue Realität. Eine Bessere, und die vor 30 Jahren untergegangene DDR ist eines der letzten Beispiele dafür, zu was der Mensch fähig ist wenn es darum geht, jene Mauern und Metallgitterzäune nieder zu reißen, welche Zuversicht, Freiheit und Entfaltung versperren. Von den dadurch ausgelösten "Reibungsverlusten" abgesehen war alles gut so - zugunsten des für die Freiheit bestimmten menschlichen Wesens.

Mancher wird aus unterschiedlichsten Gründen die Ökonomie verteufeln, die kalt und auch unmenschlich sein kann. Doch sie ist der Treibstoff, der menschliche Gemeinschaften mit Energie versorgt und am Leben hält. Deshalb ist es unausweichlich, dass sich autoritäre Systeme irgendwann selbst zu Fall bringen, wenn ökonomische Grundsätzlichkeiten mit Füßen getreten werden. Nicht nur das Aufbegehren der Menschen, sondern vor allem die "Insolvenz" des Kommunismus hat die innerdeutsche Grenze zur Geschichte werden lassen.

Die letzten 30 Jahre beweisen, wie rasant Wiederaufbau und Wiederherstellung unseres kulturellen Erbes in freiheitlichen Gesellschaften wie dem unserem möglich ist - wenn man den Menschen erlaubt, ihre schöpferische Kraft sinnvoll zu entfalten. 



 
 
 
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