Wolfgang Nieschalk
        "Wer handelt, kann Fehler machen. Wer nicht handelt, hat bereits einen Fehler gemacht."

Das Dilemma des Fortschritts.

Als die Amerikaner zum ersten Male den Mond betraten, lebte mein Großvater nicht mehr, der mein großes Vorbild war. Ich schätzte seine Weisheit und sein Vermögen, die Dinge dieser Welt zuerst mit Abstand und dann mit Humor zu betrachten - und zu ertragen. Die Mondlandung hätte ihn interessiert, aber auch gleich eine seiner Fragen aufgeworfen: "Komisch, wenn die Menschen es verstehen, so große Aufgaben zu lösen, warum tun sie sich dann so schwer mit den Kleinen?"

Als Junge war ich viel bei meinem Großvater und manche Leute behaupten, ich wäre so ähnlich wie er. Unsinn! Wenn ich heute vielleicht so beobachte und "ticke" wie er zu seiner Zeit, so hat er mir das nicht vererbt, sondern beigebracht. Zum Beispiel seine Erkenntnis, dass ein "verbessertes" Modell selten so gut ist, wie das Vorige. Oder, dass auf jeden Menschen, der etwas richtig macht ein anderer versucht, ihm das auszureden. Und auch, dass nichts so einfach gebaut ist, dass man es nicht doch noch verpfuschen könnte. 

Einen Toaster zum Beispiel. Mein Großvater legte die Brotscheibe auf die heiße Herdplatte, wartete einen Moment, während der köstliche Duft sich im Raum ausbreitete und legte dann das Brot in die Brotschale. Fertig! Dann überredete ihn meine Großmutter, einen Toaster zu kaufen. So einen altmodischen, der auf jeder Seite eine Klappe hatte, in die man das Brot reinlegte. Zuerst brach eine Klappe ab, dann die Zweite und dann kaufte er einen mit automatischem Auswurf für vier Scheiben. So einen, der in Trickfilmen immer die Toastbrote durch die Gegend schießt, wenn sie fertig sind. Sein Gerät aber machte das Gegenteil. Es rückte das Toastbrot nicht nur widerwillig heraus. Er verwandelte es sogar zu Kohle wenn man nicht aufpasste. Deshalb lag immer ein Schraubenzieher griffbereit neben dem Vollautomatischen. Großvater wäre gern zum Toasten auf die Herdplatte zurückgekehrt. Doch der niemals versagende, altmodische Herd wurde in einer euphorischen Stunde, die man "Aufbruch in bessere Zeiten" nennen könnte, verschrottet zugunsten einer Ölheizung, die seitdem immer dann nicht funktionierte, wenn es kalt wurde. 

Auch die Neuanschaffung des Autos meines Nachbarn lieferte mir den Beweis dafür, dass jede Veränderung nur zum Schlechteren führt. Sein altes Gefährt war so hoch gebaut, dass er stolz und würdevoll einsteigen konnte und das sogar, ohne seinen Hut abnehmen zu müssen. Seit dem Neuen ist's vorbei mit seiner Würde. Nun muss er buckeln und sich krümmen um seinen rundlichen Kopf unters niedrige Dach und seinen beachtlichen Bauch hinters Lenkrad zu bekommen und kann von Glück reden, dass Hüte aus der Mode gekommen sind.

Neulich stritten meine Enkelinnen Fiona und Jette sich um den letzten Berliner auf dem Kuchenteller. Ich wollte beide zufrieden stellen und teilte ihn genau in der Mitte. Von wegen zufrieden stellen. Da ging das Gezanke erst richtig los! Die ganze Marmelade war in Jettes Hälfte. Also setzte ich mich ins Auto, fuhr acht Kilometer zum Bäcker, kaufte zwei Neue und als ich zurück kam, hatten sie die Sache auf ihre Art gelöst, indem sie das Loch der leeren Hälfte mit Marmelade aus dem Kühlschrank gefüllt hatten.

In dem Moment, als ich mir "den Geteilten" selbst in den Mund schob, war mir, als hörte ich meinen  Großvater aus weiter Ferne zu mir sagen: "Was ist das bloß für eine verrückte Welt, in der ihr lebt. Ihr könnt zwar zum Mond reisen, kriegt aber Corona nicht in den Griff und - was noch schlimmer ist - nicht mal die Marmelade richtig in die Berliner!

 

 

 

 
 
 
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