Wolfgang Nieschalk
        "Wer handelt, kann Fehler machen. Wer nicht handelt, hat bereits einen Fehler gemacht."

Das Weihnachtswunder

Als ich zum Nikolaustag ein Orangenbäumchen für meine kahle Fensterbank geschenkt bekam, erinnerte ich mich an ein längst vergessen geglaubtes, 45 Jahre zurückliegendes Ereignis.

Damals lief wenige Tage vor Weihnachten mein Töchterchen mit einer Konservendose voller Erde an mir vorbei. Auf der Erde lag ein Regenwurm.

"Was willst Du mit dem Wurm?" fragte ich. "Das ist kein Wurm, das ist Fippi. Der soll auf meinen Kern aufpassen", antwortete sie. "Welchen Kern?" "Meinen Orangenkern" rief sie, lief in den Keller und stellte Konservendose, Fippi und den vermutlich in der Erde verbuddelten Orangenkern auf meine Werkbank.

Ich seufzte und dachte dabei: "Kind, Deine Fantasie möchte ich haben! Doch Weihnachten wirst du alles vergessen haben und ich werde Fippi als vertrockneten Leichnam samt Orangenkern heimlich  beseitigen müssen.

Aber am nächsten Abend fand ich sie überraschend auf die Konservenbüchse starrend in meiner Werkstatt. "Was machst du hier?" fragte ich erstaunt. "Ich warte darauf, dass aus dem Kern ein Bäumchen wächst", erklärte sie. Ich nahm sie auf den Arm und versuchte zu erklären: "Mein Liebling, das kann man nicht sehen. Bäume wachsen viel zu langsam." "Aber in der Schule haben sie einen Film gezeigt, da wuchsen die Pflanzen ganz schnell", antwortete sie.

Wie erklärt man einer Sechsjährigen einen Zeitrafferfilm? Ich schwieg deshalb und sagte nur: "Sag Fippi gute Nacht und dann ab ins Bett."

Später hörte ich sie beten: "Lieber Gott, beschütze Fippi und lass meinen Kern bis Weihnachten wachsen."

Am nächsten Abend stand sie wieder vor der baumlosen Konservendose und sagte: "Ich habe gestern gebetet. Aber Gott hat mich nicht gehört. Heute Abend werde ich lauter beten."

Ich setzte mich hin und nahm sie auf die Knie. "Weißt du", sagte ich, "Gott hat Regeln gemacht. Zum Beispiel die, dass es abends dunkel wird und morgens hell oder dass Orangenbäume langsam wachsen müssen und deshalb nicht schon zu Weihnachten groß sein können."

Sie sah mich ernst an, überlegte einen Moment und sagte dann: "Unsere Religionslehrerin sagt aber, wenn man ganz fest glaubt und betet, kann Gott alles. Glaubst du das etwa nicht Papa?"

"Doch doch", antwortete ich eine Spur zu hastig, "aber mit solchen Kleinigkeiten kann Gott sich nicht abgeben. Er hat ganz andere Dinge zu erledigen, zum Beispiel dafür zu sorgen, dass wir immer etwas zum Essen haben." "Das sind keine Kleinigkeiten," sagte sie trotzig. "Heute bete ich ganz fest und sehr laut. Dann wächst mein Kern bis zum Heiligen Abend. Du wirst schon sehen, Papa!"

Am Morgen des Heiligen Abends sah ich, wie mein Töchterchen aus der Werkstatt kam, dabei irgendwas hinter ihrem Rücken vor mir zu verbergen versuchte und dann ihren Mantel anzog. "Nanu, Wo willst du hin?" fragte ich. "Rüber zu Hanna", sagte sie. "Ich will ihr das Orangenbäumchen zeigen", und hielt ihre Konservenbüchse mit der kräftigen Pflanze triumphierend in die Luft. "Gott hat mich gehört, weil ich gestern sehr, sehr laut gebetet habe."

Vielleicht war es verkehrt von mir, dass Bäumchen zu kaufen. Aber sie war erst sechs und ihr Glaube so unverdorben. Ich wollte nicht, dass sie ihn wegen eines Orangenkerns verlieren würde. Deshalb klapperte ich jede Menge Blumengeschäfte ab und es war fast wie ein Weihnachtswunder, als ich am Tag vor Heiligabend tatsächlich ein Orangenbäumchen fand.

Nach einiger Zeit kam Töchterchen von Hanna zurück - ohne Konservenbüchse. "Wo ist das Bäumchen?" fragte ich. "Ich habe mit Hanna getauscht. Sie hat mir einen neuen Kern gegeben und wir wünschen uns, dass daraus bis zum Neujahrstag auch ein Orangenbäumchen wird. Hannas Mutter hat sich auch darauf gefreut." "Und nun willst du dafür wieder laut beten?" "Ja" - und weg war sie in meiner Werkstatt. Erst dann sah ich einen Zettel auf dem Fußboden liegen, den Töchterchen verloren hatte. "Lieber Wolfgang", schrieb Hannas Mutter, "bitte entschuldige, aber ich wollte den Kindern ihre Illusion nicht nehmen. Sie kommen noch früh genug in der Welt der Erwachsenen an. Am Neujahrstag wird das Bäumchen gewachsen sein. Garantiert. Verlass dich auf mich. Fröhliche Weihnachten!

 
 
 
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